Seminar

Ernst Kurths Musikdenken im Kontext seiner Zeit

SS 1998
Zusammen mit Dr. Andreas Eichhorn
[Frankfurt/Main, Universität]

Arbeitsplan und Material

   
1.Einführung
2.Energetismus (I): Die Grundbegriffe
R.1Die einleitenden Kapitel des Linearen Kontrapunkts (Auswahl)
Die Begriffe Energie und Spannung
Energetismus (II): Wilhelm Ostwald
R.2Die Energie von Wilhelm Ostwald und der naturwissenschaftliche Energiebegriff
3.Metaphysik und Lebensschwungkraft
Schopenhauers Einfluß auf Kurth und die Kultur des Fin de siècle
R.3Henri Bergson, Einführung in die Metaphysik
Bergsons Zeit und Freiheit
Schopenhauer-Epigonen: Karl Grunsky, Musikästhetik
4.Psychologie: Einfühlungskonzept und Gestaltqualitätengesetz
R.4Theodor Lipps, Ästhetik und Leitfaden der Psychologie
R.5Christian von Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten
5.Linearität, Vertikalität und Gravitation (I)
R.6Hugo Riemann und Ernst Kurth: Ein musiktheoretischer Diskurs
Das Konzept des Dualismus
6.Linearität, Vertikalität und Gravitation (II)
R.7Kurths Analytik im Banne des Linearen
7.Formdenken im energetischen Konzept
R.8Form als Bezwingung der Kraft durch Raum und Zeit
Ernst Kurth und Hans Mersmann
Anton Bruckner, Symphonie Nr. 8 c-Moll (2. Fassung), Satz 1
8.Das Geschichtsbild der zwei Kulturen
R.9August Halm, Von zwei Kulturen der Musik und Kurths Musikgeschichtsdeutung
9.Materialistische Energetik: Boris Assafjew
R.10Assafjew, Die musikalische Form als Prozeß
10.Atonale Innendynamik?
R.11Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik
Zur Dodekaphonie Schönbergs und Bergs
11.Analytische Perspektiven der Energetik (I)
Kurths Terminologiebildungen in Beispielen
12.Analytische Perspektiven der Energetik (II)
Musik als Ergon und Energeia - Die Ereignis-Analyse
13.Schlußbesprechung

 

Beschreibung

Die Grundlagen des linearen Kontrapunkts machten Ernst Kurth schlagartig berühmt, und mit nur geringer zeitlicher Verzögerung setzten die Kontroversen um seine Theorien ein. Musik als Energieentfaltung zu betrachten, als ein Strom des Werdens und erlebnishaft sich Verwirklichens, war in mancher Beziehung im frühen 20. Jahrhundert nicht mehr ganz neu: die herausfordernde These jedoch, daß Musik etwas völlig anderes als eine Gehörskunst sei, daß der Klang, das Erklingende überhaupt, für Musik eigentlich nichts bedeute, sondern daß Musik sich gerade im Nichterklingenden und Unhörbaren entfalte, und dann, wenn der Klang (die akustische Schwingung) anhebt, eigentlich bereits an ihr Ende gelange - dies revolutionierte zahlreiche Aspekte des Musikdenkens. Heute aber, am Ende des 20. Jahrhunderts, scheint Kurth in Vergessenheit geraten zu sein oder doch zumindest nicht mehr zu den wirklich aktuellen Theoretikern zu rechnen. Ob diese Meinung zu Recht besteht, sollte eine entsprechende Diskussion innerhalb des Seminars näher beleuchten.

Kurth war im Grunde kein reiner "Musiktheoretiker", sofern darunter die abstrahierende Erfassung, Klassifikation und Systematisierung von Teilmomenten des musikalischen Satzes verstanden wird. Psychologie und Psychoanalyse tragen kaum weniger zum Verständnis Kurthschen Musikdenkens bei. Kurth war ferner - wenn auch kein originärer - Musikphilosoph, und gerade er reflektierte die kompositionsgeschichtliche Wendung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Wagner, Bruckner) gründlicher als die meisten seiner Widersacher.

Daß das Seminar Ernst Kurths Gedanken im Kontext ihrer eigenen Zeit behandeln will, besagt nicht, daß diese Beziehung ausschließlich durch die Lektüre theoretischer Schriften ermittelt werden soll. Ein Seitenblick auf Hugo Riemann, Heinrich Schenker oder Paul Bekker erscheint geboten. Doch die damals aktuelle Musik Wagners und seiner Nachfolger, das Phänomen Bruckners und seiner Verächter, ja selbst die von Kurth verabscheute atonale Neue Musik bezeichnen einen Rahmen, der mit zu diesem Kontext gehört. Das Seminar ist demnach bestrebt, die Relevanz Kurthscher Erkenntnisse (auch deren Grenzen) anhand konkreter Musik zu erweisen, also Analyse zu betreiben - nicht ohne wiederum kritisch in die Überlegungen einzubeziehen, daß Kurth ein Gegner von "Analyse" (im Sinne des bloß Zergliedernden und Klassifizierenden) war. Mithin kreist das Seminar auch um das Problem, wie sich erlebendes Mitvollziehen des Ereignisses Musik zu deren reflektierend-"wissenschaftlicher" Erkenntnis verhält.

 

Literatur

 

Adorno, Theodor W. Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949, Frankfurt/Main 1978

Assafjew, Boris [auch Pseudonym: Glebov, Igor] Die musikalische Form als Prozeß [mit Teil II: Die Intonation], dt. von Eberhard Lippold und Dieter Lehmann, Berlin 1976

Bergson, Henri Einführung in die Metaphysik, dt. [erstmals 1909], Jena 1912

Bergson, Henri Zeit und Freiheit: Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen, dt. [erstmals 1911], Jena 1920

Ehrenfels, Christian von Über Gestaltqualitäten, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 14 (1890) S.249-292; neu in: Das Primzahlengesetz, entwickelt und dargestellt auf Grund der Gestalttheorie, Leipzig 1922

Grunsky, Karl Musikästhetik, Leipzig 1907

Halm, August Die Symphonie Anton Bruckners, München 1913, neu: München 1923

Halm, August Harmonielehre, Leipzig 1905

Halm, August Von zwei Kulturen der Musik, München 1913, Stuttgart 31947

Herder, Johann Gottfried Kritische Wälder, in: Herders Sämmtliche Werke, Bd.3, hg. Bernhard Suphan, Berlin 1878

Kurth, Ernst Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme, Bern 1913; 2. unveränderte Auflage: München 1973

Kurth, Ernst Grundlagen des linearen Kontrapunkts. Bachs melodische Polyphonie, Bern 1917; 2. Aufl. Berlin 1922; 3. Aufl. Berlin 1927; Neudruck (3. Auflage von 1927): Hildesheim 1977

Kurth, Ernst Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan, Bern 1920; 2. Aufl. Berlin 1922; 3. Aufl. Berlin 1923; Reprint der 3. Auflage: Hildesheim 1985

Kurth, Ernst Bruckner, (2 Bde.) Berlin 1925; Reprint: Hildesheim 1971

Kurth, Ernst Musikpsychologie, Berlin 1931; Bern 1947; Reprint: Hildesheim 1969

Lipps, Theodor Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, (2 Bde.) Leipzig-Hamburg 21914

Lipps, Theodor Leitfaden der Psychologie, 3. teilweise umgearbeitete Auflage, Leipzig 1909

Mersmann, Hans Angewandte Musikästhetik, Berlin 1926

Ostwald, Wilhelm Die Energie, Leipzig 21912

Schopenhauer, Arthur Die Welt als Wille und Vorstellung [Werke in zehn Bänden (Zürcher Ausgabe), Teilbände 1-4], Zürich 1977

 

Chew, Geoffrey Ernst Kurth, Music as Psychic Motion and Tristan und Isolde: Towards a model for analysing musical instability, in: Music analysis X (1991) S.171-193

Chew, Geoffrey The spice of music: towards a theory of the leading note, in: Music analysis II/1 (1983) S.35-53

Dahlhaus, Carl Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Erster Teil: Grundzüge einer Systematik (Geschichte der Musiktheorie Bd.10), Darmstadt 1984

Dahlhaus, Carl Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Zweiter Teil: Deutschland (Geschichte der Musiktheorie Bd.11), Darmstadt 1989

Dahlhaus, Carl Innere Dynamik in Bachs Fugen, in: Neue Zeitschrift für Musik 123 (1962) S.498-501

Dahlhaus, Carl Zur Theorie der musikalischen Form, in: Archiv für Musikwissenschaft 34 (1977) S.20-37

Federhofer, Hellmut Akkord und Stimmführung in den musiktheoretischen Systemen von Hugo Riemann, Ernst Kurth und Heinrich Schenker, Wien 1981

Gedenkschrift Ernst Kurth 1886-1946, [= Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft. Neue Folge 6/7 (1986/87), hrsg. Schweizerische Musikforschende Gesellschaft], Bern-Stuttgart 1989

Krebs, Wolfgang Innere Dynamik und Energetik in Ernst Kurths Musiktheorie - Voraussetzungen, Grundzüge, analytische Perspektiven, Tutzing: Schneider, [1998]

Motte-Haber, Helga de la Handbuch der Musikpsychologie, Laaber 1985

Rothfarb, Lee A. Ernst Kurth as Theorist and Analyst, Philadelphia 1988

Vogel, Martin (Hg.) Beiträge zur Musiktheorie des 19. Jahrhunderts, (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts Bd.4), Regensburg 1966

 

 


 


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Wolfgang Krebs